Nicht schwindelfrei - Roman by Haymon Verlag

Nicht schwindelfrei - Roman by Haymon Verlag

Autor:Haymon Verlag
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Haymon Verlag
veröffentlicht: 2014-02-01T16:00:00+00:00


An einem frühen Dienstagnachmittag rief ein Unbekannter an. Er entschuldigte sich: Er sei eine Viertelstunde zu spät. Paul begriff nach und nach, dass es sich um den Putzmann handelte, der als Stellvertreter seiner Frau unterwegs und nun im Stau war. Bára lag im Spital, beschäftigt mit der Geburt ihres Sohnes.

Nach der angekündigten Viertelstunde stand der Mann vor der Tür. Grauer Arbeitsmantel, darunter ein weisses Hemd mit offenem Kragen. Es tut mir aufrichtig leid, sagte er. Viktor ist mein Name.

Auch Paul bot seinen Vornamen an. Er hatte den Eindruck, dass man dem Mann genauso gut trauen wie misstrauen konnte. Er eignete sich für beides.

Viktor sprach ein sehr perfektes Deutsch, sympathisch gefärbt von einem Akzent. Wenn Sie gestatten,

Herr Paul, nehme ich heute erst mal die Fenster in Angriff.

Die Fenster, wieso?

Weil sie, Viktor lächelte, nicht mehr ganz durchsichtig sind. Da Paul zögerte, fügte er hinzu: Vielleicht bin ich auf diesem Gebiet empfindlicher als Sie. Ihre Brillengläser, Verzeihung, deuten darauf hin.

Was ist mit denen?, fragte Paul.

Sie sind trüb.

Paul öffnete den Putzschrank, doch Viktor hielt ihn am Arm zurück: Danke, ich finde mich schon zurecht.

Paul ging in sein Zimmer, das immer noch den Namen Arbeitszimmer trug. Er grub ein von Schreib­utensilien verschüttetes Brillentuch aus und reinigte die Brille.

Zum Kaffee, den die beiden später hinter blitzenden Scheiben tranken, hatte Viktor zwei Streuseltörtchen mitgebracht.

Paul erfuhr, Viktors Grossmutter sei eine Deutsche gewesen, Lehrerin an einem Gymnasium in Prag. Aus ihrem auffällig schön geschwungenen Mund habe er erste deutsche Vokabeln gehört, Kinderverse.

Dort oben auf dem Berge,

da liegt ein blauer Stein,

und wer den Stein verloren hat,

der soll mein Schätzchen sein.

Paul dachte an die eigene Grossmutter aus der Romandie, zum ersten Mal wieder seit Jahren, was ihn ganz unerwartet mit Viktor verband. Er sah einen riesigen Busen, so sagte man damals, und sonnenbraune Hautfältchen im offenen Ausschnitt. Französisch war ihre Muttersprache gewesen. Grand-mère hatte sie geheissen wie andere Hélène oder Marie-Louise. Nur Pauls Vater nannte sie Maman. Grand-mère brauchte ihre Sprache bloss noch beim Zählen und Rechnen und für ihr Abendgebet.

Als Kind hatte Paul sich gewundert, dass man überhaupt Französisch können konnte, dazu noch so mühelos wie Grand-mère, wenn sie mit ihrer Schwester aus La Neuveville sprach.

Sein Gedächtnis machte Purzelbäume.

Eines Samstagabends beim Geläut der Kirchen­glocken hörte Paul in seinem Kopf laut und deutlich das französische Vaterunser, lückenlos, von „Notre Père“ bis „et la Gloire. Amen“. Wie kam sein Gedächtnis dazu, Grand-mères Vaterunser aufzubewahren, das sie nur murmelnd gebetet hatte?

Als er Marion davon erzählte, seufzte sie: Auch das noch.

Pourquoi pas?, sagte er. Eine von Grand-mères Lieblingsformeln war ihm in den Mund geraten.

Condrau, der Arzt, kam eben aus Südafrika zurück.

Für zwei Wochen sei er im Krüger-Nationalpark unterwegs gewesen, in einem Jeep soundso, unlimited, mit seiner Frau und den beiden von den Breitmaulnas­hörnern begeisterten Mädchen. Die Wasserläufe waren weitgehend trocken gewesen. Umso zahlreicher hatten die Wildtiere sich an Tümpeln und an künstlichen Wasserstellen gesammelt. Condrau nannte vier verschiedene Sorten von Reihern. Er hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant, dem er ebenfalls begegnet war, in grossen staubigen Herden. Condraus Frau vermisste den Kolibri.

Weitere Untersuchungen, stellte Condrau beim Abschied fest, werden unvermeidlich sein.



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